Die binäre Gretchenfrage

Ein paar Monate Landluft und ich bin verändert. Der Herzschlag der Stadt, die vielen Geräusche, Formen, Fahrzeuge, Bewegungen prasseln auf mich nieder, hektisch, laut, schneller, besser, die Schaufensterauslagen, Plakate, Produkte buhlen stumm-grell um Aufmerksamkeit: Hier! Nein da, dort drüben! Kauf mich, nein mich, mich musst Du haben, ein Sonderangebot jä so, jetzt zuschlagen, nichts verpassen, dabei sein ist alles, mein Hirn kommt ins Stottern (nicht dass auf dem Land alles ganz anders wäre, es ist einfach sehr viel überschaubarer). Alles liegt uns Stadtmenschen in Europa zu Füssen, alle Optionen stehen uns offen, alles können wir haben, wir müssen ja nur wählen, uns nur entscheiden und zwar jetzt – und eben genau das ist so verdammt schwer. Was wollen wir? Was brauchen wir? Was ist wirklich wichtig? Marketing-technisch reduziert es sich auf die binäre Gretchenfrage: bist Du eine Eins oder eine Null? Stehst Du ganz oben auf der Siegertreppe oder hechelst Du nur gequält hinterher? Dialektik funktioniert fraglos auch in der Politik, wenn die unerwünschte Alternative in düstersten Farben an die Wand gemalt wird. Grautöne? Ab ins Reich (der pornographischen Literatur). Zum Glück ist nachdenken gratis und wir haben die Wahl. Aber vielleicht sollte die 1:12 Initiative zur Entlastung kaufrausch-entwöhnter Hirne auf Supermärkte und Kleiderläden ausgeweitet werden. Zwölf Waschmittel im Regal würden auch mehr als genug Auswahl bieten, oder?

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